Autor: Max Walter Kinninger *
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A. Abstract
Im Folgenden wird anhand zweier Werke die Bedeutung des Gerichtsverfahrens in der Diskursanalyse Michel Foucaults und der Systemtheorie Niklas Luhmanns zusammenfassend dargestellt und einer Kritik unterzogen. Auf der Suche nach einem geeigneten Vergleichsrahmen dieser so unterschiedlichen soziologischen Theoriebildungen stößt man auf den Begriff der Macht. Trotz der unterschiedlichen Behandlung desselben durch Foucault und Luhmann ergibt sich eine Vergleichsmöglichkeit durch die Bedeutung des Gerichtsverfahrens als dasjenige Produktionsmittel, dessen Produkte konzeptuell mit der „Macht“ eng verknüpft sind.
„Herr Untersuchungsrichter, Sie können einwenden, dass es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne.“
Josef K. in Franz Kafkas „Der Prozess“, 1951, Fischer Verlag: Frankfurt/Main.
B. Einleitung und Analyserahmen
Josef K. findet sich in Franz Kafkas Roman Der Prozess einer allumfassenden Justizprozedur ausgesetzt, die ohne erkennbaren Anlass oder Zweck Anhörungen und Untersuchungen zu seinem Leben durchführt. In den Jahren 1914 und 1915 geschrieben, lässt sich der Roman zumindest auf politisch-gesellschaftlicher Ebene als Kritik an einer wachsenden Bürokratie und eines die Freiheitsrechte des Einzelnen stark einschränkenden Staates interpretieren. Der Prozess des Josef K. ist so eine – dystopisch zu Ende gedachte – Darstellung der Handlungsform des Staates, mit der in der modernen Gesellschaft Einzelfallgerechtigkeit geschaffen werden soll: das Gerichtsverfahren.
Mit diesem die Macht des Gerichtsverfahrens skeptisch behandelnden Entwurf im Hinterkopf soll im Folgenden zunächst die jeweilige Bedeutung des Gerichtsverfahrens bei Michel Foucault und Niklas Luhmann dargestellt werden. Hierzu werden in einem ersten Schritt die für das Phänomen des Gerichtsverfahrens relevanten Passagen aus Die Wahrheit und die juristischen Formen beziehungsweise Legitimation durch Verfahren jeweils zusammenfassend interpretiert. In einem zweiten Schritt erfolgt eine sowohl textimmanente als auch empirische Kritik dieser Passagen. In einem weiteren Schritt wird untersucht, inwiefern das Phänomen des Gerichtsverfahrens zu zentralen Konzepten des jeweiligen Autors in Beziehung gebracht wird bzw. gebracht werden kann. Im Anschluss hieran wird eine vergleichende Betrachtung angestrebt, die zunächst nach einem geeigneten Vergleichsrahmen der Theorien fragt und die jeweiligen Bedeutungen des Gerichtsverfahrens einander gegenüberstellt.
C. Die Bedeutung des Gerichtsverfahrens bei Foucault
I. Das Gerichtsverfahren in „Die Wahrheit und die juristischen Formen“
Foucault gibt als Programm zu Beginn seines Werkes an, die Genealogie der juristischen Formen in Bezug zu einer Reihe von Wahrheitsformen setzen zu wollen.[1] Die Behandlung der Entwicklung des Gerichtsverfahrens als eine dieser juristischen Formen findet sich in den Kapiteln II und III. Als ideengeschichtliche Folie widmet Foucault das Kapitel II einer Analyse der Gerichtspraktiken des alten Griechenlands, indem er das archaische und klassische Zeitalter anhand der Beispiele aus Homers Ilias und Sophokles’ Οἰδίπους Τύραννος kontrastierend gegenüberstellt.
In ersterer wird beim Streit um den Ausgang des Wagenrennens zwischen Menelaos und Antilochos nicht der Beobachter der Wendemarke als Zeuge zur Entscheidungsfindung herangezogen, sondern von Menelaos ein Schwur „beim Erdenerschütterer“ eingefordert.[2] Diesen vermag Antilochos nicht zu leisten, sodass die Entscheidung zugunsten des Menelaos fällt. Als Prototyp des archaischen Verfahrens erkennt Foucault somit in dieser Episode das Entscheidungsmoment der Probe („épreuve“), das nicht auf die Vergangenheit des Tatsächlichen rekurriert, sondern mit den Folgen eines Schwurs oder ähnlichem auf die Zukunft gerichtet ist.[3]
Obwohl sich auch im klassischen Drama des Sophokles noch Elemente der Probe finden, sei bezeichnend, dass die fürderhin maßgebliche „épreuve“ – in Form der Prophetie des Teiresias – das Verfahren hier nicht beendet. Ödipus nämlich will dessen Konsequenz nicht (aner)kennen und verweigert sich der „épreuve“. Im weiteren Drama verschiebt sich daher der Diskurs von der prophetisch-göttlichen „épreuve“ hin zur retrospektiv-bezeugenden Ermittlung.[4] Die so gesammelten Zeugenaussagen der Hirten und eines Dieners laufen mit den göttlichen Eingebungen parallel und geben schließlich den Ausschlag für das Ergebnis des Verfahrens, das sich als vernichtendes Verdikt über Ödipus manifestiert.
In Kapitel III zeichnet Foucault eine ähnliche Entwicklung des Verfahrenskonzeptes im europäischen Mittelalter nach.[5] Er charakterisiert das Verfahren nach dem alten germanischen Recht anhand dreier Merkmale. Zum einen fehlt es an einer öffentlichen Instanz, welche bei Rechtsstreitigkeiten einen wie auch immer näher ausgestalteten Rahmen vorgeben würde, sodass Rechtsstreitigkeiten eine duale, aus den Streitparteien bestehende Struktur aufweisen. Desweiteren stellt sich diese duale Struktur in der Dynamik eines geregelten Krieges dar; das Verfahren läutet kein Friedensintervall ein, sondern lenkt den Streit quasi zeremoniell in gewisse Bahnen. Als letztes Merkmal führt Foucault die Möglichkeit der monetären Beendigung des Verfahrens an, indem sich eine der Parteien von den ihm drohenden Konsequenzen – nicht von der auf ihm lastenden Schuld – freikauft.
Auffallend sei in diesem Verfahren, dass die etwaigen Entscheidungsmomente nicht durch Ermittlungen oder Untersuchungen bestimmt seien, sondern durch ein „System der Probe“[6]. Dazu zählt etwa der Schwur einer gewissen Anzahl an Personen, welche in keiner Beziehung zu den verfahrensgegenständlichen Fragen stehen müssen, sondern dem Betroffenen einen guten Leumund aussprechen. Ihre Zeugeneigenschaft ist personen-, nicht sachorientiert. Weiter gibt es Proben, zu deren Bestehen Formeln ohne Fehler aufzusagen sind oder an der Physis des Betroffenen orientierte Proben (Gottesurteile), welche auf eine besondere Geschicklichkeit oder Stärke des Betroffenen abzielen. Angesichts der Probe als binärem Entscheidungsoperator, der Sieg oder Niederlage anzeigt, braucht es laut Foucault keine gesonderte Ermittlungs- oder Feststellungsinstanz. Eine solche entwickelt sich erst mit den Anfängen von frühneuzeitlicher Staatlichkeit in Form der an Waffen, Territorium und Gütern mächtigen Monarchien.[7]
Das Verfahren erweitert sich durch die Entwicklung des Gesetzesverstoßes zu einer triangulären Struktur, in welcher der Machtinhaber die Verletzung eigener Herrschaftsrechte durch den fürderhin dual konzeptionalisierten Rechtsbruch geltend zu machen sucht. Foucault stellt quasi spieltheoretische Erwägung an, um unter diesen herrschaftlichen Vorzeichen die Abkehr von der Probe als Entscheidungsoperator zu erklären: Herrscher hätten in einer dualen Struktur als Streitpartei ein zu hohes Verlustrisiko.[8] Die zur Probe bestehenden Alternativmodelle zum einen der inquisitio, bei welcher unter Eid stehende Experten in einer Art Verwaltungsverfahren eine verbindliche (Rechts-)Antwort geben, und zum anderen der in-flagranti-Nachweis seien kombiniert worden zu einem zeugenorientierten Ermittlungsverfahren, der „enquête“. Hierdurch werde ermöglicht, Phänomene der Vergangenheit wie präsent erscheinen zu lassen und ein in seinem Anwendungsbereich deutlich umfassenderes Äquivalent zum in-flagranti-Nachweis des alten Rechts zu schaffen.[9]
II. Konzeptionelle Bezugspunkte des Gerichtsverfahrens
Die Bedeutung des Gerichtverfahrens für Foucaults Werk – im Besonderen wie Allgemeinen[10] – werden im Folgenden anhand der Bezugspunkte dieses Phänomens zu weiteren Begriffen Foucaults bestimmt. Foucaults Genealogie des Gerichtsverfahrens ist zunächst eingebettet in eine „Analyse neuer Formen des Subjekts“[11]. Die konzeptionelle Vermittlung zwischen Subjekt(ivität) und Gerichtsverfahren erfolgt durch die „Wahrheit“, die Foucault als „Beziehung zwischen Subjekt und Objekt“[12] konstruiert. Foucault dynamisiert dabei die Wahrheit, indem er sie nicht nur in ihrer eigenen Geschichtlichkeit, sondern in anderen Arten und an anderen Orten als produktiv begreifen möchte.[13] Indem das Gerichtsverfahren als juristische Form also Wahrheit produziert, stellt es eine Beziehungsform zwischen Subjekt und Objekt dar, sodass der Entwicklung des Gerichtsverfahrens eine entsprechende Entwicklung der Subjektivität korrespondieren könnte.
Foucault wendet sich dabei gegen einen in seiner Darstellung „marxistischen“ Wahrheitsbegriff, demgemäß die gesellschaftlichen Verhältnisse die Erkenntnis der Wahrheit erschweren oder verhindern würden[14] – es seien im Gegenteil gerade die gesellschaftlichen (und weiteren) Verhältnisse, welche Bedingungen für Wahrheit konstituieren (beziehungsweise Wahrheit erst produzieren) würden.
Derartige (zeitgeschichtliche) Bedingungen für die Produktion von Wahrheit sucht Foucault in Sophokles’ Οἰδίπους Τύραννος aufzuzeigen. So handelt für ihn das Drama nicht von Schuld, sondern von Macht, welche sich vor allem auf das überlegene Wissen des Ödipus – paradigmatisch als „Rätselauflöser“ und „Stadterlöser“ – stützt.[15] Das „Tyrannische“ an Ödipus sei die wechselseitige Verknüpfung von Wissen und Macht, welche sich ursprünglich aus dem göttlich vermittelten Wissen der herrschenden Priesterkaste entwickelt und sich in der klassischen Zeit in Erosion befunden habe. Indem nämlich im Drama die göttlich inspirierte „épreuve“ und die menschlich testierte „enquête“ gleichlaufen, werde der „Tyrann“ Ödipus überflüssig. In der neuen athenischen Gesellschaft der Demokratie der Sophisten und der Empirie des Aristoteles sei der „Mythos“[16] entstanden, dass nachfolgend Wissen und Macht getrennt seien bzw. dass sich die Wahrheitsfindung unabhängig von (politischen) Machtverhältnissen vollziehen könne.
Diesen Mythos will Foucault anhand einer Betrachtung des hochmittelalterlichen Gerichtsverfahrens in Form der „enquête“ auflösen. So seien die Gründe der Umstellung vom „System der Probe“ auf ein „System der Untersuchung“ nicht im Fortschritt der menschlichen Vernunft zu suchen, sondern in Art und Umfang der politischen Machtausübung im Hochmittelalter. Wie oben angeführt, erschienen den Herrschenden angesichts frühneuzeitlicher Staatsstrukturen „épreuves“ ungeeignet. Vielmehr konnte mit dem Konzept „Gesetzesverstoß“ eine Verletzung der herrschaftlichen Macht in der Form der monarchischen Souveränität geltend gemacht werden. Um einen Gesetzesverstoß festzustellen, war wiederum eine Wahrheitsfindung im Verfahren der „enquête“ nötig. Das Gerichtsverfahren in Form der „ênquete“ bedeutet für Foucault somit zuerst eine die politische Machtausübung stützende Produktion von „Macht-Wissen“.[17] Darüber hinaus bedeutet sie die Grundform der Entwicklung der allgemeinen Wissensform der „enquête“, die als Folie der Wahrheitsproduktion in den empirischen Wissenschaften für die folgenden Jahrhunderte fungiert.[18] Erst im Panoptismus als umfassend sozial kontrollierende, gegenwartsorientierte Macht findet sich mit dem „examen“ eine neue Form der Wahrheitsproduktion jenseits von „épreuve“ und „enquête“.[19]
III. Kritik
Angesichts des genealogischen Analyserahmens Foucaults, der wenngleich eine eigene, so doch auch eine auf Wissenschaftlichkeit angelegte Art der Historik betreibt,[20] sind seine Darstellungen neben logischer Schlüssigkeit auch hinsichtlich ihrer (empirischen) Gültigkeit kritisch zu betrachten.
In Kapitel II erscheint sowohl beim Heroenzwist der Ilias als auch beim Drama des Sophokles höchst fraglich, ob es sich um geeignete Beispiele für ein archaisches bzw. klassisches Gerichtsverfahren oder vielmehr um außergerichtliche Streitbeilegungsarten, also gerade um nicht-juristische Formen, handelt.[21]
So verfügten damalige Gerichte nicht über einen Amtsermittlungsgrundsatzes, sodass sie sich rein auf die Darstellung der jeweiligen Streitpartei stützen mussten. Vor diesem Hintergrund geht das investigative beziehungsweise „inquisitorische“ Handeln des Ödipus deutlich über das Mandat eines richterlichen Magistrats der damaligen Zeit hinaus.[22] Diese zumindest historisch problematische Verwendung des sophokleischen Verfahrens wird verschärft durch die Fehleinschätzung Foucaults, es handele sich bei diesem um „das erste Zeugnis griechischer Gerichtspraxis, das wir besitzen“[23]. Mehr als 20 Jahre vor dem Drama des Sophokles wurde die Dramentrilogie Ὀρέστεια des Aischylos erstmalig aufgeführt, in deren letztem Drama Εὐμενίδες das Gerichtsverfahren unter dem Vorsitz Athenes den Muttermord des Orestes behandelt.[24] Ins Mythische gespiegelt, verfremdet das Gerichtsverfahren in diesem Drama dabei den Sturz des Ephialtes als Tyrann Athens und die Einleitung „demokratischer“ Strukturen unter Perikles.[25] Wollte man also eine Genealogie des Verfahrens vor allem vor dem Hintergrund einer Änderung der Machtverhältnisse rekonstruieren, erscheint es fragwürdig, über die Ὀρέστεια hinwegzugehen und diese fundamentale Verschiebung in ein Geisteszeugnis der späteren Zeit hineinlesen zu wollen.
Ähnlich kritikwürdig scheint in Kapitel III die Darstellung des (alten) germanischen Rechts. Auch wenn Foucault Tacitus erwähnt, ist unklar, ob er sich bei seiner Darstellung des alten germanischen Rechts auf dessen Germania bezieht oder andere Quellen verwendet.[26] Ähnlich wie am Beispiel der antiken Verfahrensänderung ist auch bei der beschriebenen Verschiebung im Hochmittelalter fraglich, ob diese maßgeblich durch die veränderten Herrschaftsverhältnissen zu erklären ist. Die streng duale Struktur des Verfahrens, welche Foucault für das germanische Recht annimmt,[27] wird historisch betrachtet schon in der damaligen Zeit aufgelöst durch Institute Dritter, die nicht nur als mediierend, sondern auch richtend – etwa in Form der Volksversammlung (Thing bzw. Umstand oder concilium) – tätig sind.[28]
Bußzahlungen zur Verhinderung von Fehden wurden dabei nicht nur als Ausgleich inter partes bezahlt, sondern auch als Abgabe für die Verletzung des Friedens an den Stammesfürst,[29] was Foucault als monarchischen Güterkonzentrationsmechanismus erst nach oder mit der Verschiebung der Verfahrensform im Hochmittelalter ansiedelt. Zwar erkennt er für die neue Verfahrensform der „enquête“ die religiösen Einflüsse der bischöflichen visitatio an,[30] doch verkennt Foucault mit der Herausstellung der Bedeutung des Gesetzesverstoßes als Güterkonzentrationsmechanismus die originäre Herkunft des dahinterstehenden Landfriedens: Dieser entspringt der Gottesfriedensbewegung[31], sodass zumindest neben der weltlichen politischen Macht die geistliche politische Macht in die Verschiebung des Kräfteverhältnisses miteinbezogen werden müsste. Angesichts der langen und wechselhaften Geschichte der Gottes- und Landfriedensbewegung zur Verhinderung der Fehde erscheint höchst fraglich, inwiefern das vorhergehende germanische Recht, welches zu demselben Zweck durch die Stammesfürsten erlassen wurde, überhaupt Geltung erlangen und Rechtswirklichkeit konstituieren konnte.[32] Zwar bestanden de iure Entscheidungsmomente in Form von Eiden, Gottesurteilen und ähnlichem für die Einlösung der Bußzahlung; jedoch ist die de-facto-Prävalenz dieser „épreuves“ und damit ihre Typizität für diese Epoche fraglich, insofern von einer gefestigten Abkehr vom Institut der Fehde erst mit dem Mainzer Landfrieden von 1235 auszugehen ist.[33]
Zusammenfassend ist bei aller Kritik der historischen Ankerpunkte Foucaults hervorzuheben, dass auch und gerade rechtshistorisch die Ablösung des Verfahrens einer dualen Struktur durch dasjenige einer triangulären Struktur als juristische Revolution weiterhin angenommen wird.[34] Ist auch vor dem Hintergrund der historischen Kritik die strenge Genealogie fraglich und erscheint es plausibler, von historischen Überlagerungen und Parallelismen auszugehen, so behalten die von Foucault destillierten juristischen Formen für eine Beleuchtung des Phänomens von „Macht-Wissen“ beziehungsweise „Produktion von Wahrheit“ jedenfalls ihren analytischen Wert.
D. Die Bedeutung des Gerichtsverfahrens bei Luhmann
I. Das Gerichtsverfahren in „Legitimation durch Verfahren“
Luhmann begreift das Gerichtsverfahren als ein eigenes soziales System[35] und bestimmt dieses somit entsprechend der Merkmale seiner Systemtheorie:
Als soziales System ist das Verfahren gekennzeichnet durch eine Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Das System ist dabei nur ein Ausschnitt der Welt, innerhalb dessen gewisse Möglichkeiten zum faktischen Erleben bestehen (Systemkomplexität).[36] Durch diese Komplexitätsreduktion der Umweltkomplexität zur Systemkomplexität, die intern wiederum eigenen Reduktionsmechanismen unterworfen ist, können soziale Systeme Sinn konstituieren und damit Orientierung in der Welt bieten.[37]
Als elementare Systemmerkmale des Gerichtsverfahrens sieht Luhmann zusammenfassend die Ausdifferenzierung in ein bestimmte Verfahrensrollen institutionalisierendes Handlungssystem, relative Autonomie des Verfahrens, hinreichende Komplexität zur Bewältigung von Konflikten in einer funktional ausdifferenzierten (modernen) Gesellschaft sowie die Ungewissheit des Verfahrensausgangs an.[38]
Zunächst beschreibt Luhmann anhand der funktionalen Ausdifferenzierung und der damit einhergehenden Autonomie die Steigerung der Systemkomplexität des Gerichtsverfahrens. So ist diese zum einen bedingt durch die Entwicklung des Beweisrechts, welches sich weg vom Gottesurteil und dem rollenabhängigen Beweis hin zum freien Beweisrecht ausgestaltet hat, das von religiösen und sozialen Einflüssen unabhängig ist.[39] Dieser Mangel an alternativen (etwa religiösen oder sozialen) Reduktionsmechanismen führt zu einer Steigerung der Komplexität. Zum anderen bedingt auch die Evolution des modernen Gesellschaftssystems weg von einem direkten Kontaktsystem („face to face“) eine Komplexitätssteigerung: in solchen Systemen schaffe das „Gesetz des Wiedersehens“[40] wechselseitige Abhängigkeiten, die komplexitätsreduzierend wirken würden.[41]
Damit die Systemleistung der Sinnkonstituierung erreicht wird, muss die so neu aufgebaute Komplexität anhand von Selektionsmechanismen reduziert werden,[42] zu denen zuvörderst das Rollenspiel des Verfahrens, die damit verbundenen Darstellungsformen der Beteiligten und die hieraus sich ergebende Konfliktform gehört.
So lassen sich die Beteiligten durch das Rollenspiel im Gerichtsverfahren vor dem Hintergrund des ungewissen Urteils auf den „Trichter des Verfahrens“[43] ein, der sie zu selbstkonsistentem und verfahrensrollenkonformen Verhalten und damit konsequent zu einer Entscheidung drängt.[44] Indem schon durch den Eintritt in das Gerichtsverfahren der Streit als Streit anerkannt wird und hierdurch die eigene Position rollenkonform relativiert werden muss[45] – man hat noch nicht Recht, sondern will es bekommen – befindet man sich bereits im Kontext eines sozialen Systems, das die Anerkennung des Verfahrensergebnisses erwartet. Präziser gefasst ist dazu nicht notwendig, dass die Betroffenen die Entscheidung internalisieren, sondern nur, dass sie sich nicht als „Querulant“ offen gegen die Entscheidung stellen;[46] eine solch ablehnende Haltung ist vor dem Hintergrund der freiwillig gewählten Verfahrensrolle und dem an den unabhängigen Richter abgegebenen Verantwortungs- (und somit Handlung-) Spielraum inkonsistent und kann zu sozialer Sanktionierung führen.[47] Dieser juridische Akzeptanzrahmen wird zum einen durch einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens verfestigt, der durch die Öffentlichkeit des Verfahrens abgesichert ist.[48] Zum anderen immunisiert sich das Gerichtsverfahren als soziales System, dessen Akteure maßgeblich durch die im politischen System erzeugten Regeln fremdprogrammiert sind, gegen Kritik an Entscheidungen durch einen „Verweis nach oben“.[49]
II. Konzeptionelle Bezugspunkte des Gerichtsverfahrens
Luhmann entwickelt seine Theorie des Gerichtsverfahrens und dessen Bezugspunkte im Kontrast zur „klassischen Konzeption des Verfahrens“[50]. Hiernach sei das Verfahren auf eine von den jeweiligen Machthabern unabhängige Erkenntnis von Wahrheit oder wahrer Gerechtigkeit ausgerichtet. Dies kritisiert Luhmann in mehrfacher Hinsicht. So könne zum einen durch diesen Ansatz nicht hinreichend erklärt werden, warum sich im Nachhinein als unrichtig darstellende Verfahrensresultate aufrechterhalten und anerkannt werden.[51] Zum anderen operiere der klassische Verfahrensbegriff mit einem naturwissenschaftlichen Wahrheitsverständnis, das für seine Anerkennung qua Selbstevidenz gar kein Verfahren benötigen würde;[52] dieses Wahrheitsverständnis stamme aus der durch die Positivierung des Rechts überwundenen Epoche des Naturrechts.[53] Wahrheit solle erweitert gedacht werden als sozialer Mechanismus, der reduzierte Komplexität überträgt.[54] Da mangels Selbstevidenz in intersubjektiven Bereichen der modernen Gesellschaft die Wahrheit allein zur Übertragung reduzierter Komplexität nicht ausreicht, sei die Frage nach daneben bestehenden funktionalen Äquivalenten zu stellen. Ein solches stellt die Macht als Mechanismus von Komplexitätsreduktion in der Form von Selektionsleistungen, die auf Entscheidung beruhen, dar.[55] Ziel des Verfahrens sei es also, diese „Reduktion von Komplexität intersubjektiv übertragbar zu machen“, durch Wahrheit oder durch legitime Entscheidungsmacht.[56]
Als Schlüsselbegriff zum Verständnis seiner Verfahrenskonzeption bestimmt Luhmann dabei die Legitimität als „rein faktisch verbreitete Überzeugung von der Gültigkeit“[57] rechtlicher Phänomene. Einfache, wert- oder inhaltsorientierte Überzeugung in Form der Wahrheit sei angesichts der funktional differenzierten Gesellschaft nicht ausreichend, um diesen Prozess der Legitimation zu beschreiben.[58] Vielmehr müsse zusätzlich eine formale Struktur der Akzeptanz bestehen, die die notwendige Generalisierung des Lernprozesses sicherstellt.[59] Da Lernen als identitätsgefährdender Vorgang nicht freiwillig erfolgen kann, um effektiv zu sein, sei eine Institutionalisierung dieses Prozesses angezeigt, sodass der Lernende gesichts- und identitätswahrend die Lernsituation in Form des rechtlichen Phänomens verlässt.[60] Eine solche Institutionalisierung sieht Luhmann im (rechtlichen) Verfahren, welches als soziales System auf Komplexitätsreduktion durch Strukturbildung ausgerichtet ist.[61]
III. Kritik
Kritisch zu hinterfragen sind insbesondere der Legitimationsbegriff Luhmanns sowie das empirische Vorliegen einzelner Merkmale des Gerichtsverfahrens.
Vor allem aus den Rechtswissenschaften wurde die Kritik vorgetragen, Luhmanns Legitimationsbegriff sei ein bloß formaler und mangels inhaltlichem Bezug zu den Gegenständen des Verfahrens untauglich, das Phänomen der Legitimität zu erfassen.[62] Wenn jedoch beispielsweise Zippelius nach dem „Grund für die […] Hinnahme der Entscheidung“[63] fragt, so wird deutlich, dass diese und ähnliche primär juristische Kritik die Anormativität des Luhmann’schen Legitimitätskonzepts verkennt[64] und nicht zwischen Legitimation und Legitimationsgrund differenziert. Gerade die Kritik mangelnder Implikation von Gerechtigkeitsprinzipien[65] verweist auf den dahinterliegenden Dissens zwischen Naturrecht und positivem Recht, den Luhmann (freilich für sich) an vielen anderen Stellen zugunsten des letzteren entschieden hat. Es handelt sich bei der Kritik an Luhmanns Legitimitätskonzept somit allenfalls um einen Stellvertreterkonflikt für die Diskussion um Naturrecht oder positives Recht. Über die deskriptive Bezeichnung der sozialen Tatsache des Anerkennungsmechanismus als „Legitimität“ – ein, wie die Kritik zeigt, oft normativ verstandener Begriff – lässt sich freilich streiten.[66]
Weitere Kritik orientiert sich vor allem an der Beschreibung einzelner Merkmale des Gerichtsverfahrens. So werde die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung durch die Darlegung möglicher Urteilsgründe bereits während des Prozesses durch den Richter nicht verringert, sondern eher erhöht.[67] Ferner werde die Rolle des Richters in der fremdprogrammierten Rechtsanwendung zu mechanistisch verstanden, da für den Richter teilweise weitreichende Bewertungs- und Beurteilungsspielräume in der Gesetzesanwendung und –auslegung bestünden.[68]
Abgesehen von diesen einzelnen, sich bereits aus der notwendigen Idealität der Darstellung „des“ Gerichtsverfahrens ergebenden Unschärfen[69] sowie der Kritik am Legitimitätskonzept, die auf einer (zu) normativen Lesart beruht, liefert Luhmann eine analytisch überzeugende Darstellung des Gerichtsverfahrens als soziales System. Für dessen Aussagekraft spricht nicht zuletzt die anhaltende Rezeption des Konzepts „Legitimation durch Verfahren“ durch das Bundesverfassungsgericht.[70]
E. Vergleichende Betrachtung
I. Vergleichsrahmen
Wenngleich Bestrebungen existieren, System- und Diskurstheorie auf abstrakter Ebene miteinander zu vergleichen oder gar füreinander fruchtbar zu machen,[71] erweist sich eine derartige Vermittlung als schwierig. Der Versuch, diese „große Theorien“ miteinander in Beziehung zu setzen, führt einerseits zu holzschnittartig verkürzten Aussagen. So sei die Diskurstheorie eher zur Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die Systemtheorie eher zur Beschreibung gesellschaftlicher Statik verwendbar.[72] Andererseits werden abstrakte, nicht für diese Theorien spezifische Bezugspunkte für einen Vergleich bemüht. So wird als gleicher Gegenstandsbereich der Theorien die Beschreibung der Grundstruktur der modernen Gesellschaft angegeben.[73] Wiederum müssen einzelne Theorieelemente zum Behufe ihrer Vergleichbarkeit stark abstrahiert werden, so etwa bei der Identifikation der Gemeinsamkeit, dass sowohl in System- als auch in Diskurstheorie selbständige Regelwerke vorliegen, anhand derer Aussagen oder Sinn hervorgebracht werden.[74] Auf ähnlich abstrakter Ebene bewegt sich die Feststellung, sowohl Luhmann als auch Foucault würden ihre Theorien entsubjektivieren und den Fokus auf größere gesellschaftliche Prozesse legen[75], was freilich bei Gesellschaftstheoretikern nicht überrascht.
Losgelöst von einem abstrakt-theoretischen Vergleich der Bedeutung des Gerichtsverfahrens bei Foucault und Luhmann soll daher nach einem tertium comparationis gesucht werden, anhand dessen die konzeptionelle Anlage des Gerichtsverfahrens im begrifflichen System der jeweiligen Theorie möglichst klar zu Tage treten kann.
Problematisch erscheint dies zunächst angesichts der unterschiedlichen Gerichtsverfahren, welche Foucault und Luhmann analysieren. Diese Differenz ergibt sich hauptsächlich aus der verschieden gelagerten historischen Dimensionierung der Werke.[76] Das für diesen Vergleich maßgebliche Verfahren der „enquête“ bei Foucault ist im erst entstehenden Staat der frühen Neuzeit angesiedelt, der sich durch ein nur rudimentär ausgebildetes Rechtssystem und ein politisches System ohne Gewaltenteilung kennzeichnet. Luhmann hingegen beschreibt das Gerichtsverfahren des modernen Verfassungsstaates, der nicht nur über ein ausdifferenziertes, sondern auch über ein positiviertes Recht verfügt und der das Gerichtsverfahren in der zweiten von drei unabhängig agierenden Staatsgewalten ansiedelt. Zwar bettet auch Luhmann das Gerichtsverfahren historisch ein, jedoch geschieht dies nur kursorisch unter dem Aspekt der Entwicklung des Beweiswürdigungsrechts vom Gottesbeweis über den Rollenbeweis hin zur freien Beweiswürdigung.[77] Diese historischen Ausführungen sind für die Argumentation Luhmanns weder zentral noch hinreichend detailliert, um einen aussagekräftigen Vergleich mit Foucaults Entwurf anhand der Genealogie des Gerichtsverfahrens zu tragen.
Für einen solchen Vergleich weiter denkbar wäre der Bezugspunkt der Wahrheit, welche als Output des Verfahrens der „enquête“ gerade für Foucaults Argumentation zentral ist. Diese Produktion von Wahrheit vollzieht sich, wie oben dargelegt, in einem Macht-Wissen-Komplex anhand der Entwicklung von Ermittlungsmethoden und Gesetzesverstößen. Diesem Fokus steht Luhmanns eher nebensächliche Behandlung der Wahrheit gegenüber. Luhmann konzipiert das Gerichtsverfahren nicht als einen Prozess der Wahrheitsfindung, sondern als Ensemble von Merkmalen eines sozialen Systems, das eine ohne physisches Gewaltmittel akzeptierte beziehungsweise akzeptierbare Streitentscheidung herbeiführt.[78] Luhmann geht es mit dem Verfahren nicht primär um die Produktion von Wahrheit, sondern gerade um die Immunisierung des sozialen Systems gegenüber Wahrheit, zugunsten der Stabilisierung des Systems. Die Wahrheit spielt zwar als Entscheidungselement durchaus eine Rolle, stellt aber gerade in der funktional differenzierten Gesellschaft im sozialen System des Verfahrens keinen starken Komplexitätsreduktionsmechanismus dar.[79] Dies leiste das Verfahren vielmehr „durch Bildung legitimer Macht“[80]. Ein möglicher gemeinsamer Bezugspunkt der Verfahrenskonzepte von Luhmann und Foucault ist somit die Macht, anhand derer als tertium comparationis das Verfahrensverständnis von Luhmann und Foucault kontrastierend gegenübergestellt werden soll. Hierfür ist zunächst das Machtverständnis bei Foucault und Luhmann zu betrachten.
II. Macht als Vergleichspunkt
1. Macht bei Foucault
Ein bedeutender Übergang in Foucaults Werk ist derjenige von einer Archäologie des Wissens zu einer Genealogie der Macht. Foucault beschreibt dabei in mehreren seiner Werke die Transformation verschiedener Macht-Wissens-Konfigurationen anhand der Diskursverschiebungen vom 18. zum 20. Jahrhundert, etwa anhand der Strafen[81] oder der Sexualität[82].[83] Er geht dabei zunächst von einer repressiven, juridisch-politischen Macht des Souveräns aus, die primär durch Auslöschung oder Ausschließung des Individuums die verletzte Souveränität des Herrschers wiederherstellen soll.[84]
Foucault löst sich jedoch von diesem klassischen Machtverständnis, das die Macht bei dem höchsten, sie repressiv einsetzenden Akteur einer Gesellschaft verortet. In seiner Genealogie der Macht begreift Foucault die Macht als totalisierenden Vergesellschaftungsmechanismus, als ein Netz von Kräfteverhältnissen, das nicht bei einigen wenigen Akteuren liegt, die Macht von oben nach unten einsetzen würden.[85] Foucault entwirft einen postmarxistischen, positiven Machtbegriff, der neben der repressiven auch und gerade eine produktive Dimension hat.[86] In diesen Analysegang fügt sich Die Wahrheit und die juristischen Formen ein, worin historisch durch den Güterkonzentrationsmechanismus der „enquête“ zwar eine negative Dimension enthalten ist, jedoch durch das Gerichtsverfahren sowohl in actu als auch als Folie für weitere Wirklichkeitsermittlungen mit der Wahrheitsproduktion eine positive Dimension gegeben ist.
Diese produktiv-positive Dimension setzt sich mit der Form des „examen“ fort, durch das die Produktion von Macht-Wissen an den Körpern der Individuen vollzogen wird. Diese Form führt Foucault vor allem in Überwachen und Strafen zu einer umfassenden Analyse dieser Disziplinarmacht aus, die entgegen dem klassischen Machtverständnis eine Mikrophysik der Macht anhand der einzelnen Körper darstellt.[87] Nach detaillierter Untersuchung fängt Foucault den Überbau der Macht in der Form eines zentralen Regierungssystem durch seinen Gouvernementalitätsbegriff ein, der durch die Bio-Macht, welche durch Demographie, öffentliche Hygiene, Ökonomie und andere die Bevölkerung en detail erfasst, das strategische Zentrum einer Gesellschaft abbilden soll.
Gerade Die Wahrheit und die juristischen Formen und das dortige Verfahren der „enquête“ stehen mit der Verknüpfung von Machtverhältnissen und Wissensproduktion exemplarisch für die Phase der Machtgenealogie, in der Macht maßgeblich die Funktion zugeschrieben wird, dass sie „Wirkliches, […] Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale [produziert]“[88].
2. Macht bei Luhmann
Ähnlich wie Foucault verabschiedet sich auch Luhmann von der Fokussierung des klassischen Machtverständnisses auf eine repressiv-negative Dimension.[89] Die einseitige Betrachtung der Macht als Ursache für die Überwindung (möglichen) Widerstandes gibt er ebenfalls zugunsten einer relationalen Betrachtung der Macht auf.[90] Die Funktion der Macht sieht Luhmann in der „Regulierung von Kontingenz“[91] beziehungsweise in der „Generalisierung der Relevanz individueller Entscheidungen“[92], als eine Form des generalisierten Einflusses. Dabei ist Macht keine „Habe“[93] oder Fähigkeit, sondern ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium.
Zwar ist Macht grundsätzlich in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen präsent,[94] was Foucault noch deutlich affirmativer bejahen würde. Jedoch wird diese Macht in der ausdifferenzierten Gesellschaft im politischen System, welches kollektiv bindende Entscheidungen hervorbringen soll, kanalisiert und fungiert dort als Medium in dem Code „Regierung/Opposition“.[95] Durch Luhmanns strenge (analytische) Trennung verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme und die Zuordnung der Macht als spezifischen Selektionsmechanismus im politischen System kann diese nicht dieselbe umfassende und pervasive Position wie in Foucaults machtgenealogischer Diskurstheorie erhalten. Jedoch ist die operative Geschlossenheit Luhmann’scher Teilsysteme nicht als Isolation zu missverstehen: verschiedene Teilsysteme können sich durchaus durch Beobachtung, Resonanz, Irritation oder strukturelle Kopplung gegenseitig beeinflussen, präziser: zur Selbstregulierung anregen.[96]
Dies ist möglich etwa in der strukturellen Kopplung von Wissenschaft und Politik, sodass eine Vermittlung von Wissen und Macht stattfinden kann, jedoch hat diese Relaisstation – wie die Analyse der Kommunikation zwischen Teilsystemen insgesamt – eine deutliche geringere Bedeutung bei Luhmann als bei Foucault.
Als strukturelle Kopplung für das System Politik/Macht spielt für Luhmann das Recht eine wichtige Rolle. So erfährt die Politik im modernen Rechtsstaat eine Zweitcodierung ihrer Kommunikation im Medium des Rechts,[97] sodass Rechtsförmigkeit als Mittel der Generalisierung und Extension von Politik beziehungsweise als Machtkonservationsmechanismus fungiert.[98] Wie bei Foucault das Wissen, so erscheint bei Luhmann somit das Recht als „Bündnispartner der Macht“[99].
3. Bedeutung des Gerichtsverfahrens vor dem Hintergrund des Machtvergleichs
Vergleicht man die begrifflichen Verknüpfungen in den Denksystemen Foucaults und Luhmanns, so ist vor dem Hintergrund der Machtanalyse für Die Wahrheit und die juristischen Formen festzustellen, dass das Gerichtsverfahren das Wissen beziehungsweise die Wahrheit produziert, welche mit der Macht „im Bündnis“ einen Macht-Wissens-Komplex formen. In Legitimation durch Verfahren produziert das Gerichtsverfahren Legitimation, welche die Macht im System des Rechts einer Zweitcodierung zuführt. Geht man von der jeweiligen Machtkonzeption aus, so stellt das Gerichtsverfahren somit das Prozedere dar, an dessen Produkt die Macht gekoppelt ist. Diese Kopplung erfolgt bei Foucault direkt, in einer netzartigen Durchdringung von Macht und Wissen am Körper des Subjekts – sodass Wahrheit als Subjekt-Objekt-Relation zutage tritt – bei Luhmann hingegen deutlich indirekter, im Rahmen einer nicht hinreichend transparenten Beeinflussung der Systeme von Politik und Recht.
Die Bedeutung der Tatsache, dass der Psychologe Foucault die Macht an das Wissen und der Jurist Luhmann die Macht an das Recht knüpft, wäre dabei nur einer von vielen Faktoren, die bei einer weitergehenden Differenzierung dieser Kopplungen zu berücksichtigen wären.
F. Schluss
Die vorliegende Arbeit sollte eine vergleichende Analyse der Bedeutung des Gerichtsverfahrens bei Michel Foucault und Niklas Luhmann darstellen. Über die Produktion von Wahrheit oder Legitimität hinaus wurde insbesondere durch die vergleichende Perspektive der gemeinsame Bezugspunkt der Macht bei beiden Autoren unterstrichen. Vor dem die beiden Machtkonzeptionen verbindenden Horizont eines positiven Machtverständnisses erscheint auch das Gerichtsverfahren nicht nur als potentiell repressives Mittel in Form der politischen oder Klassen-Justiz, sondern wird in einen abstrakteren sozialen Kontext eingebettet.
Dieser stellt sich bei Foucault – insbesondere in der historischen Blaupause für empirische Untersuchungen – als Feld von Wahrheitsbedingungen dar, bei Luhmann in der Stabilisierung von gewaltfreien Streitbeilegungssystemen. Wenn dies Kritikern der beiden Autoren auch oft zum Vorwurf gereichte, so erlaubt die weitestgehend wertungsfreie Analyse der Macht und ihrer Instrumente eine komplexere Darstellung dieses Phänomens. Diese vermag es, über die bisweilen in der (Post-)Moderne an kafkaeske Repression erinnernde Kritik hinauszugehen und die Produktivkräfte der Macht freizulegen. Das Phänomen des Gerichtsverfahrens ist hierfür bei beiden Autoren nur ein – wenngleich eindrückliches – Beispiel.
* Der Autor studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaften und im vierten Mastersemester Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Der Artikel basiert auf einer Arbeit, die im Rahmen des Seminars „Machtanalysen bei Foucault und Luhmann“ von Prof. Dr. Wilhelm Metz im Wintersemester 2018/19 entstand.
[1] Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2015, S. 13 – im Folgenden zitiert als Foucault, WF.
[2] Homer, Ilias, hrsg. v. Kurt Steinmann, 2017, XXIII. Gesang, S.440 (V. 584).
[3] Foucault, WF, S. 32f.
[4] Foucault, WF, S. 39f.
[5] Foucault, WF, S. 54ff.
[6] Foucault, WF, S. 58.
[7] Foucault, WF, S. 63f.
[8] Foucault, WF, S. 67.
[9] Foucault, WF, S. 72.
[10] Die Wahrheit und die juristischen Formen ist das einzige der Werke Foucaults, welches als zentralen Untersuchungsgegenstand das Recht bzw. das rechtliche Verfahren behandelt, vgl. Schweitzer, Diskursanalyse, Wahrheit und Recht: Methodologische Probleme einer Diskursanalyse des Rechts, Zeitschrift für Rechtssoziologie 2015, S. 201-221, S. 212.
[11] Foucault, WF, S. 12.
[12] Foucault, WF, S. 10.
[13] Foucault, WF, S. 12; Foucault, La maison des fous, Dits et écrits II (1970-1975), 1994, S. 693.
[14] Foucault, WF, S. 27f. – Freilich handelt es sich dabei um eine Kritik, die angesichts der umfassenden ideengeschichtlichen Rezeption der griechischen Konzeption von Wahrheit als ἀλήθεια/das „Unverborgene“ nicht nur dem Marxismus zu machen ist.
[15] Foucault, WF, S. 41ff.
[16] Foucault, WF, S. 51.
[17] Foucault, WF, S. 77.
[18] Foucault, WF, S. 74f.; ebenso: Foucault, Maison, S. 696; Foucault, Überwachen und Strafen, 2014, S. 289.
[19] Foucault, WF, S. 86; ebenso: Foucault, Überwachen und Strafen, S. 251ff.
[20] Vogl, Genealogie, in: Foucault-Handbuch, 2008, S. 255-258, S. 255.
[21] Vgl. ausführlich Schauer, Aufforderung zum Spiel – Foucault und das Recht, 2006, S. 248, S. 273f.
[22] ibid.
[23] Foucault, WF, S. 31.
[24] Aischylos, Die Orestie, 2016, S. 145ff. (Vv. 397ff.).
[25] Bierl, Die Orestie des Aischylos, in: Aischylos, Die Orestie, S. 245-276, S. 251f., S. 271f.
[26] So finden sich weder für Die Wahrheit und die juristischen Formen noch für eine entsprechende rechtshistorische Vorlesung La volonté de savoir – Cours au Collège de France 1970/71 hinreichende Quellenangaben, vgl. Schauer, Aufforderung, S. 288. Ebenso bleiben die Periodisierung, welches germanische Recht „alt“ ist, sowie die Einordnung, welche der vielen Leges Foucault zu diesem Recht zählt, unklar.
[27] Foucault, WF, S. 55.
[28] Schmoeckel, Stolte, Examinatorium Rechtsgeschichte, 2008, S. 292ff.
[29] Köbler, Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte, 1988, S. 47f.
[30] Foucault, WF, S. 69f., S. 73.
[31] Vgl. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2004, S. 54; Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 1996, S. 25f.
[32] Vgl. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte – Band 1: bis 1250, 1999, S. 38f.
[33] Eisenhardt, Rechtsgeschichte, S. 53.
[34] Statt vieler vgl. Wesel, Juristische Weltkunde, 1984, S. 29ff.
[35] Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2017, S. 40ff. – im Folgenden zitiert als Luhmann, LV.
[36] Vgl. ausführlich Luhmann, Soziale Systeme – Grundriss einer allgemeinen Theorie, 2015, S. 30ff., S. 242ff.
[37] Luhmann, LV, S. 41; Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, 2011, S. 24f.
[38] Luhmann, LV, S. 120.
[39] Luhmann, LV, S. 60ff.
[40] Luhmann, LV, S. 75.
[41] ibid.
[42] Vgl. Mainzer, Komplexität, in: Luhmann-Handbuch, 2012, S. 92-95, S. 94.
[43] Luhmann, LV, S. 115.
[44] ibid.; so auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 2013, S. 332f.; zur dieser programmierten Teleologie des Verfahrens als zentralen Punkt der Argumentation Luhmanns vgl. auch Kieserling, Legitimation durch Verfahren, in: Luhmann-Handbuch, S. 145-150, S. 146; Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 412f.
[45] Luhmann, LV, S. 105.
[46] Luhmann, LV, S. 118f.
[47] ibid.
[48] Luhmann, LV, S. 121ff.
[49] Luhmann, LV, S. 129ff.
[50] Luhmann, LV, S. 18.
[51] Luhmann, LV, S. 17f.
[52] Luhmann, LV, S. 22f.
[53] Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, S. 190ff.
[54] Luhmann, LV, S. 23.
[55] Luhmann, LV, S. 25, ebenso Luhmann, Macht im System, 2013, S. 59, S. 62.
[56] Luhmann, LV, S. 26.
[57] Luhmann, LV, S. 27.
[58] Luhmann, LV, S. 32.
[59] Luhmann, LV, S. 33.
[60] Luhmann, LV, S. 34.
[61] Luhmann, LV, S. 42ff.
[62] Möllenstedt, Niklas Luhmann – Legitimation durch Verfahren, Kritische Justiz 1970, S. 369-371, S. 371; Rottleuthner, Zur Soziologie richterlichen Handelns (II), Kritische Justiz 1971, S. 60-88, S. 69 ff.; Zippelius, Legitimation durch Verfahren?, in: Paulus, Diederichsen, Canaris (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 293-304, S. 295f.
[63] Zippelius, Legitimation, S. 297.
[64] Röhl, Rechtssoziologie, S. 418.
[65] Machura, Niklas Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ im Spiegel der Kritik, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1993, S. 97-114, S. 109; Zippelius, Legitimation, S. 300.
[66] Vergleichbar kritisiert Cicero so das Konzept der epikureischen voluptas, das er nicht primär wegen dessen inhaltlicher Qualifizierung, sondern wegen dessen Bezeichnung schlechtheißt, da die Lust „wie eine Dirne in die Gesellschaft ehrbarer Frauen“ eingeführt würde, vgl. Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum, II. Buch, 4. Kapitel.
[67] Machura, Kritik, S. 108.
[68] Zippelius, Legitimation, S. 300; Machura, Kritik, S. 108.
[69] In entsprechender Selbstkritik bereits Luhmann, LV, S. 57f.
[70] Machura, Kritik, S. 112; Di Fabio, Luhmann im Recht – Die juristische Rezeption soziologischer Beobachtung, in: Gripp-Hagelstande (Hrsg.), Niklas Luhmanns Denken – Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen, S. 139-155, S. 140.
[71] Link, Wieweit sind Diskurs- und Systemtheorie kompatibel, Kulturrevolution 2003, S. 58-62; Parr, Punktuelle Affinitäten, ungeklärte Verhältnisse, Kulturrevolution 2003, S. 55-57; Reinhardt-Becker, Systemtheorie und Diskursanalyse, Kulturrevolution 2004, S. 8-13.
[72] Martinsen, Negative Theoriesymbiose, in: Brodocz, Hammer (Hrsg.), Variationen der Macht, 2013, S. 57-75, S. 71f.
[73] Reinhardt-Becker, Überschneidungen und Differenzen: Niklas Luhmann, in: Foucault-Handbuch, S. 213-218, S. 214.
[74] ibid.; Kabobel, Die politischen Theorien von Luhmann und Foucault im Vergleich, 2011, S. 112; so auch Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 2000, S. 54.
[75] Prokić, Verbindungen, Bezüge, Differenzen: Michel Foucault, in: Luhmann-Handbuch, S. 284-287, S. 284; Kabobel, Politische Theorien, 2000, S. 114; Reinhardt Becker, Überschneidungen und Differenzen: Niklas Luhmann, in: Foucault-Handbuch, S. 213-218, S. 215.
[76] Ein weiterer Unterschied in der Verfahrensbetrachtung ergibt sich daraus, dass Foucault von Strafprozessen, denen eine Asymmetrie der Streitparteien zugrunde liegt, Luhmann hingegen in der Tendenz von Zivilprozessen ausgeht, die von einer Symmetrie der Streitparteien gekennzeichnet sind.
[77] Luhmann, LV, S. 60ff.
[78] Luhmann, LV, S. 32, S. 41; ebenso Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 2013, S. 332f.
[79] Luhmann, LV, S. 22ff.
[80] Luhmann, LV, S. 26.
[81] Foucault, Überwachen und Strafen, 2014.
[82] Foucault, Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit 1, 2014.
[83] Borch, Systemic Power – Luhmann, Foucault, and Analytics of Power, Acta Sociologica 2005, S. 155-167, S. 157; Martinsen, Theoriesymbiose, S. 62.
[84] Ruouff, Macht, in: ders., Foucault-Lexikon, 2007, S. 146-156, S. 153; Bublitz, Macht, in: Foucault-Handbuch, S. 273-277, S. 275.
[85] Kneer, Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung – Zum Zusammenhang von Sozialtheorie und Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und Niklas Luhmann, 1996, S. 240f.
[86] Bublitz, Macht, in: Foucault-Handbuch, S. 273-277, S. 275; Prokić, Verbindungen, Bezüge, Differenzen: Michel Foucault, in: Luhmann-Handbuch, S. 284-287, S. 286.
[87] Ruoff, Mikrophysik der Macht, in: ders., Foucault-Lexikon, S.157, S. 157.
[88] Foucault, Überwachen und Strafen, S. 250.
[89] Prokić, Verbindungen, Bezüge, Differenzen: Michel Foucault, in: Luhmann-Handbuch, S. 284-287, S. 286.
[90] ibid.; Luhmann, Macht im System, S. 17ff.
[91] Luhmann, Macht, 1975, S. 12.
[92] Luhmann, Macht im System, S. 54.
[93] Luhmann, Macht im System, S. 30.
[94] Luhmann, Macht, S. 90.
[95] Kabobel, Politische Theorien, S. 138f.
[96] Reinhardt-Becker, Überschneidungen und Differenzen: Niklas Luhmann, in: Foucault-Handbuch, S. 213-218, S. 216f.
[97] Martinsen, Theoriesymbiose, S. 67.
[98] Luhmann, Macht, S. 95
[99] Martinsen, Theoriesymbiose, S. 72.