Autorin: Karoline Schlotmann*
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Im Rahmen einer Kooperation der Freiburger Studierendengruppe ELSA (European Law Students’ Association) und der FreiLaw-Redaktion (Freiburg Law Students Journal), fand am 05.05.2021 ein Vortrag von Professor Voßkuhle zum Thema „Rechtsstaatskrise in Europa“ statt. Der Vortrag fand virtuell statt, da angesichts der Corona-Pandemie eine Präsenzveranstaltung nicht möglich war.
Professor Dr. Dr. h. c. Andreas Voßkuhle war von 2008 – 2020 Richter am Bundesverfassungsgericht und seit 2010 dessen Präsident. An der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ist er Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie.
Zu Beginn seines Vortrages gab Herr Prof. Voßkuhle eine Einführung in die Idee der europäischen Rechtsgemeinschaft und deren konstituierender Charakteristika. Dabei ging es neben der Wirkung und Geltung von EU-Recht und der Rechtsfortbildung in einem vielsprachigen Raum auch um den Verbundgedanken und den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Das Projekt der europarechtlichen Rechtsgemeinschaft, bei dem von Beginn an viele verschiedene Akteure mitwirkten, sehe sich auch heute noch vor Herausforderungen, die es gefährden könnten.
Zunächst sehe sich die europäische Rechtsgemeinschaft einem Grundproblem ausgesetzt. Dieses bestehe in der schweren Veränderbarkeit der Verträge und des Sekundärrechts, wegen des dafür erforderlichen politischen Konsens. Damit komme es trotz hohen Veränderungsdruckes bei neuen Entwicklungen zu großen zeitlichen Verzögerungen bei der Reaktion auf diese. Die Konsequenz sei eine steigende Bereitschaft zur Umgehung des Erfordernisses einer formellen Rechtsänderung hin zu einer verdeckten Umstellung auf eine Anwendungsänderung. Dies bedeute eine Umstellung von Recht auf Politik innerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft. Durch solche Entwicklungen verliere das Recht an Funktionsmacht, wie es sich exemplarisch im Migrationsrecht abzeichnet.
Daneben stelle auch die Rechtsprechung des EuGH eine Herausforderung dar. In seiner Funktion stelle er eine treibende Kraft des Integrationsprogrammes dar und das mit Erfolgsgeschichte.
Problematisch werde es jedoch, wenn die Rechtsfortbildung des EuGH nicht politisch abgesichert ist. Dies zeige sich beispielsweise an der Abstimmung über die EU-Verfassung sowie dem Brexit. Und darin bestehe auch eine weitere Herausforderung vor der die europäische Rechtsgemeinschaft stehe, nämlich die Beachtung und Vollziehung von Recht in der Praxis.
Analysen der Europäischen Kommission zeigten, dass die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren gestiegen seien. Bei der europäischen Rechtsgemeinschaft lasse sich jedoch nicht von einer Rechtsbruchgemeinschaft sprechen. So seien die Vertragsverletzungsverfahren mehrheitlich auf die verzögerte Umsetzung von Rechtsakten wegen innerstaatlicher Probleme zurückzuführen und nicht etwa auf eine grundsätzliche Weigerung, EU-Recht umzusetzen. Darüber hinaus reichte in den meisten Fällen schon die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren gegen die in Rede stehenden Mitgliedsstaaten, damit diese die Rechtsverstöße beseitigten.
Ebenfalls sei auch nicht von einer Rechtsvergessenheit in der Union zu sprechen. Zwar kam es beispielsweise im Zuge der Unterstützungsmaßnahmen der EU während der Finanzkrise zu Auslegungskonflikten, grundsätzlich seien Rechtsauslegungskonflikte innerhalb einer Rechtsgemeinschaft aber nicht bedenklich. Auslegungskonflikte könnten innerhalb von Rechtsgemeinschaften geradezu konstituierend wirken, ohne dass ein Verlust rechtsstaatlicher Qualität befürchtet werden müsse.
Es gebe dennoch Beispiele, an denen man ein vermindertes Rechtsbewusstsein innerhalb der EU festmachen könne. Beispielsweise die Weigerung Italiens während des Höhepunktes der Flüchtlingszuwanderung die Dublin III VO umzusetzen, die regelt, dass der Staat der Erstaufnahme für Asylanträge zuständig ist. Dazu kam die Weigerung von anderen Mitgliedsstaaten, das vereinbarte Kontingent an Flüchtlingen aufzunehmen. Dies waren offensichtliche Verstöße gegen zwingendes Unionsrecht. Diese konnten nicht durch den EuGH beseitigt werden.
Nun zeige dies zwar, dass auch neben der Erosion rechtsstaatlicher Garantien in einzelnen Mitgliedsstaaten Baustellen innerhalb der Rechtsgemeinschaft bestehen, jedoch könne man nicht von strukturellen Vollzugsdefiziten sprechen. Man müsse vielmehr bedenken, dass sich ein Großteil des Europarechts geräusch- und problemlos in unserem Alltag vollziehe, ohne dass Umsetzungsschwierigkeiten bestünden.
In Bezug auf einzelne Mitgliedstaaten, wie Polen und Ungarn, sei es allerdings beachtlich, wie durch Mehrheitsparteien das rechtsstaatliche Grundgerüst dieser Länder innerhalb weniger Jahre zerbrochen sei.
Dies zeige sich an verschiedenen Entwicklungen.
In Polen kam es ab 2015 zu verschiedenen Justizreformen. Dem Justizminister wurde ermöglicht, die Amtszeit von Richtern nach seinem Ermessen zu verlängern oder Richter zu entlassen. Zudem kam es zur Einführung einer Disziplinarkammer, die es ermöglichte, Richter wegen des Inhalts von Gerichtsentscheidungen mit Disziplinarmaßnahmen zu sanktionieren.
Ähnliche Entwicklungen gab es in Ungarn. Zunächst wurde das Rentenalter von Richtern, Staatsanwälten und Notaren von 70 auf 62 Jahre herabgesetzt, während das allgemeine Rentenalter auf 65 Jahre angehoben wurde. Zudem wurde die Richteranzahl am Verfassungsgericht von 11 auf 15 erweitert, wobei das Parlament mit einer 2/3-Mehrheit über die Besetzung entscheiden würde.
Die Strategien und Instrumente der EU zum Umgang mit diesen Entwicklungen setzten dabei daran an, die Gewährleistung rechtsstaatlicher Grundstrukturen zu sichern.
Dabei würde schon bei den Beitrittsverhandlungen angesetzt werden. Von einem Beitrittsstaat müssten sowohl gem. Art. 49 EUV die Grundwerte der EU, die in Art. 2 EUV verankert sind, geachtet werden als auch die sogenannten Kopenhagen-Kriterien. Während der Beitrittsverhandlungen könne die Kommission Vorschläge für Maßnahmen machen, die die Umsetzung von EU-Recht ermöglichen. Insgesamt sei dies eine Heranführungsstrategie.
Daneben gebe es das Art. 7 EUV-Verfahren. Dieses stelle ein dreistufiges Sanktionsverfahren dar, das auf die Wahrung der Rechtstaatlichkeit für die Zeit nach dem Beitritt von Staaten gerichtet sei. Das Verfahren knüpfe an die (Gefahr einer) Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte an. Gleichzeitig stelle Art. 7 EUV die einzige Möglichkeit dar, Mitgliedschaftsrechte zu beschränken. Die Hürde der Einstimmigkeit, die es für eine solche Beschränkung braucht, erweise sich bei dem Art. 7 EUV Verfahren jedoch als sehr hoch. So könne das Verfahren jeweils von einem Mitgliedsstaat, der sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sieht, blockiert werden. Bisher blieben die Verfahren gegen Ungarn und Polen erfolglos.
Bereits im Jahr 2014 wurde zudem im Rahmen der Stärkung des Rechtsstaatsprinzips ein Frühwarnverfahren entwickelt. Die Kommission nimmt dabei eine Sachstandsanalyse vor, in der sie prüft, ob es in einem Mitgliedsstaat objektive Hinweise auf eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit gebe. Anschließend würde auf einen Dialog zwischen der Kommission und den betroffenen Mitgliedsstaaten gebaut, um systemische Gefährdungen aus der Welt zu schaffen. Dies diene als Vorstufe und Ergänzung zum Art. 7-Verfahren. Jedoch scheint auch das Verfahren des konstruktiven Dialogs bisher nicht gefruchtet zu haben, sodass das Art. 7 EUV-Verfahren auch fortan ein weitgehend „stumpfes Schwert“ blieb.
Auch in jüngster Zeit habe es wieder Reformbewegungen hin zum Rechtsstaatenschutz gegeben. Im Jahr 2020 unterbreitete die EU Kommission den Vorschlag für die Verordnung zur „Allgemeinen Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“, die im Allgemeinen als „Rechtsstaatsmechanismus“ bekannt ist. Jedoch habe sich dieser, mittlerweile in Kraft getretene Mechanismus, ebenfalls als „stumpfes Schwert“ erwiesen. Zwar sei es mit dem Mechanismus möglich, die Zahlungen an Mitgliedsstaaten einzuschränken, jedoch müsse dafür eine Beeinträchtigung des EU-Haushalts nachgewiesen werden. Nachdem Ungarn und Polen vor dem EuGH Klage eingereicht haben, bestand Uneinigkeit dahingehend, ob die Klage eine Anwendung des Mechanismus aussetze oder nicht. Das EU-Parlament erklärte sich im Zuge dieser Entwicklungen bereit, rechtliche Schritte gegen die Kommission einzuleiten, da diese ihrer Verpflichtung, den Mechanismus anzuwenden, nicht nachkomme.
Nunmehr ist wiederum die Rolle des EuGH im Rahmen der Rechtsstaatskontrolle beachtlich.
Diese vollzog sich in drei Etappen.
Die erste Etappe vollzog sich im Hinblick auf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen der schon zuvor angesprochenen Absenkung des Rentenalters bei Richtern, Notaren und Staatsanwälten. Der EuGH stellte dabei einen Verstoß gegen die Richtlinie über „Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ fest.
Die zweite Etappe vollzog sich durch die Vorlage des OLG Bremen vom 05.04.2016 an den EuGH. In der Sache ging es um die Aussetzung des Vollzugs eines internationalen Haftbefehls aus Ungarn. Es bestanden Bedenken hinsichtlich der Haftbedingungen in Ungarn.
Der EuGH bejahte die Aussetzung unter zwei Voraussetzungen. Es müsse in einem zweistufigen Verfahren geprüft werden, ob es erstens systemische Mängel in dem Land der Auslieferung gebe und zweitens, ob es im Einzelfall eine konkrete Betroffenheit gebe. Um dies zu überprüfen, müsse die für die Vollstreckung zuständige Stelle bei der ausstellenden Stelle Informationen bezüglich der Haftbedingungen einholen. Die Prüfung erfolge also auf nationaler Ebene.
Die dritte Etappe der Rechtsstaatenkontrolle durch den EuGH, die sich wiederum in einer Vorabentscheidung am 27.02.2018 vollzog, führte zu einer gänzlich neuen Dogmatik und könne als „Quantensprung“ bezeichnet werden. In der Sache ging es dabei um die Kürzung von Richterbezügen des portugiesischen Finanzhofes. Im Ergebnis hielt der EuGH diese Kürzungen für mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar. Der Weg dahin sei das „spektakuläre“ dieser Entscheidung.
Die nationale Gerichtsbarkeit ist kein vollharmonisierter Bereich des EU-Rechts und somit dem EuGH grundsätzlich nicht zugänglich. Der EuGH sah sich trotzdem in der Position zu überprüfen, ob die richterliche Unabhängigkeit der portugiesischen Gerichte durch die portugiesische Gesetzgebung gewahrt wurde. Die Union gründe auf die in Art. 2 EUV niedergelegten Werte, wobei davon inbegriffen sei, dass sie eine Rechtsunion ist. Betroffene hätten das Recht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen, die der Umsetzung einer Unionshandlung dienen, gerichtlich anzufechten. Dabei werde dies durch Art. 19 EUV konkretisiert. Jedoch werde durch Art. 19 EUV nicht nur die Aufgabe, innerhalb des Unionsrechts eine gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, auf den EuGH und die nationalen Gerichte übertragen, der wirksame gerichtliche Schutz sei auch allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Zum Rechtsstaat gehöre schon das Vorhandensein einer gerichtlichen Kontrolle, die die Einhaltung des Unionsrechts sicherstellt. Soweit ein nationales Gericht Unionsrecht auslegt und anwendet, muss das Gericht einen mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Einklang stehenden Rechtsschutz gewähren. Eben dazu gehöre auch die Unabhängigkeit der Gerichte, wie es sich aus Art. 47 Abs. 2 GrCH ergebe.
Damit habe sich der EuGH selbst eine Kompetenz für eine vollumfängliche Prüfung der nationalen Gerichte geschaffen und ein Wertepostulat zu einer effektiv justiziablen Norm gemacht.
Neben diesen gerichtlichen Kontrollen gebe es weitere präventive Elemente, die der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit dienen sollen. Diese seien der jährliche Rechtsstaatlichkeitsbericht durch die Kommission, das europäische Semester und das Justizbarometer.
Insgesamt lasse sich als Fazit zur Rechtsprechung festhalten, dass sich das Vertragsverletzungsverfahren als effektiver als die Vorabentscheidung erweise. Durch Vorabentscheidungsverfahren würde die Last der Entscheidung bei den Vorlagerichtern liegen. Diesen würde, wie es am Beispiel der Aussetzung des europäischen Haftbefehls erkennbar wird, die Bürde aufgetragen, sich mit anderen Rechtsordnungen auseinanderzusetzen und diese zu bewerten. Zweifele ein nationales Gericht an der europarechtlichen Konformität des eigenen Landes, bestehe die Gefahr, dass sich Richter persönlichen Repressalien ausgesetzt sehen könnten. Um dauerhaft systematische Rechtsstaatsdefizite zu beseitigen, seien Zwangsgeldandrohung durch die EU wohl besser geeignet.
Auch dass sich der EuGH über die bloße Verfahrenskontrolle hinweggesetzt hat und eine materielle Rechtsstaatskontrolle im Falle der portugiesischen Richterbezüge vorgenommen hat, könnte hohe Kosten mit sich führen. Über Art. 19 EUV hat sich der EuGH vollen Zugriff auf nicht harmonisierte Bereiche eröffnet und sich somit über die Entscheidung der Mitgliedstaaten, welche Bereiche sie der Vollharmonisierung zugänglich machen wollen, hinweggesetzt.
Auch in Deutschland habe diese Entwicklung Auswirkungen gezeigt. In Deutschland, so der EuGH, sei die Staatsanwaltschaft aufgrund des Weisungsrechts der Justizminister nicht unabhängig. Und das VG Wiesbaden habe sich mit einer Vorlagefrage bezüglich seiner Unabhängigkeit selbst an den EuGH gewandt.
Wie sich die Verhältnisse in der Zukunft entwickeln, bleibt daher zweifelhaft, insbesondere wie sich die veränderten Bedingungen der europäischen Gemeinschaft auf Art. 2 EUV auswirken werden.
In der abschließenden Diskussion hatten alle Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Fragen in einer offenen Fragerunde zu stellen.
Unter anderem wurde gefragt, ob es nicht sinnvoll sei, den Art. 50 EUV dergestalt zu erweitern, dass der EU das Recht zugestanden würde, Mitgliedsstaaten bei anhaltenden Rechtsverletzungen der EU zu verweisen.
Jedoch seien Konflikte mit Staaten wie Ungarn, Polen oder auch Rumänien und Bulgarien, so Professor Voßkuhle, nicht rechtlich zu lösen. Eine Lösung sei viel mehr, auch wenn sich dies aufgrund finanzieller, wirtschaftlicher und kultureller Faktoren als schwierig gestalte, auf politischer Ebene zu suchen. Rechtlich bestehe eine solche Möglichkeit gerade nicht. Dies sei auch nicht wünschenswert, denn der Zusammenhalt einer Gemeinschaft wie die der EU würde nicht dadurch gestärkt, dass es bei Zerwürfnissen zu einem „Rausschmiss“ kommen könnte.
Auch im weiteren wurden vermehrt Fragen zur Handhabung von Rechtsstaatsverletzungen durch Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien gestellt und wieso diese weiterhin die die gleichen Privilegien der Union hätten wie die Staaten, die keine Rechtsstaatsverletzungen begingen.
Professor Voßkuhle wies drauf hin, dass zu beachten sei, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht immer nur vom rechtlichen System, sondern auch von der Kultur, in der sie besteht, abhänge. Als Beispiel nannte er einen Vergleich zwischen der Schweiz und Polen. In der Schweiz müssten Bundesrichter Mitglieder einer Partei sein, um in ihre Position gewählt zu werden und zudem einen Teil ihres Gehalts an ihre Partei zahlen. Dennoch bestünden keine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Schweiz. In Polen hingegen müssten die Richter persönliche Repressalien fürchten, und die Rechtsstaatlichkeit stünde viel eher in Frage. Damit würde deutlich, dass ein Rechtsstaat nicht nur von Regeln abhinge, sondern auch davon, wie mit diesen umgegangen würde und ob das Gefühl der Rechtsstaatlichkeit bestünde. Denn am Beispiel der Schweiz zeige sich, dass die Zugehörigkeit zu einer Partei von Richtern nicht zwangsläufig die Rechtsstaatlichkeit untergrabe, wenn die Richter weiterhin frei entscheiden könnten und dies auch wüssten, also keine persönlichen Repressalien fürchten müssten.
Im Zusammenhang damit sei ebenfalls zu beachten, dass Polen bis 2015 ebenfalls ein funktionierender Rechtsstaat gewesen sei. Die Justizreformen wurden in der Öffentlichkeit jedoch nicht als so problematisch wahrgenommen, wie sie es in ihrer Tragweite waren. Der Bevölkerung sei die Rolle der Gerichte nicht derart klar gewesen, wie es in Deutschland vielleicht der Fall gewesen wäre. In Deutschland setze das Verfassungsgericht stark auf Öffentlichkeitsarbeit, um seine Bedeutung innerhalb des Rechtsstaats aufzuzeigen. Ein Rechtsstaat müsse jeden Tag neu erkämpft werden.
Zuletzt wies Professor Voßkuhle zu den Fragen hinsichtlich möglicher Sanktionen noch darauf hin, dass es sinnvoll sei, sich zu fragen, welche allgemeinen Entwicklungen den Rechtspopulismus stärken und wie man die Ursachen bekämpfen könne. Strukturelle Probleme könne man nicht einfach durch Gerichtsentscheidungen lösen.
Neben Fragen zur Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU hatten Teilnehmende auch Fragen zum Bundesverfassungsgericht, insbesondere dazu, inwiefern nicht auch die Besetzung der Richterpositionen eine problematische Politisierung mit sich ziehen würde.
Die Besetzung der Richterstellen, die hälftig durch den Bundestag erfolgt, sei zum einen im Grundgesetz verankert und somit rechtlich gewollt, zum anderen führe dies in der Praxis dazu, dass aufgrund von Kompromissfindungen zwischen den Parteien Richterstellen grundsätzlich eher nicht mit Vertretern von extremen politischen Ansichten besetzt würden. Dies erhöhe nicht nur die Akzeptanz der Besetzung, sondern führe auch dazu, dass es im Nachhinein keine Versuche der politischen Beeinflussung gäbe. Zudem sei auch die Frage, welche Alternative es gäbe und inwiefern beispielsweise eine Expertenkommission zusammengesetzt werden müsse und nach welchen Kriterien diese dann letztlich über die Besetzung entscheiden zu hätte. Der derzeitige Weg sei trotz der Einflussnahme von Parteien immerhin demokratisch durch die Wahlen legitimiert.
Auch bei anderen Fragen rund um das Verfassungsgericht plädierte Prof. Voßkuhle für mehr Diversität. So sei es wünschenswert, dass Richterstellen mit Personen, die einen Migrationshintergrund haben, besetzt würden, um verschiedenen Sichtweisen Raum zu geben.
Zuletzt sei noch die Frage erwähnt, wie sich unser Rechtsstaat und unsere Gesellschaft in den nächsten 50 Jahren verändern werde.
Dies sei zwar durch zwei große Treiber bestimmt, die Digitalisierung und die Globalisierung, jedoch könne niemand genau vorhersagen, wie sich diese Veränderungen im Detail vollziehen werden.
Damit endete das Kooperationsprojekt von ELSA und FreiLaw. Der Abend wurde allgemein als Erfolg verbucht und gab den Teilnehmenden neue Denkanstöße und Einblicke in das Rechtsstaatengefüge der Europäischen Union.
Ein großer Dank gilt Herrn Professor Voßkuhle, der sich die Zeit für den Vortrag und die Beantwortung von zahlreichen Fragen genommen hat, die nicht alle Platz in diesem Artikel finden konnten.
*Die Autorin studiert im zehnten Fachsemester Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Der Artikel entstand im Rahmen eines Vortrages von Prof. Voßkuhle zum Thema „Rechtsstaatskrise in Europa“.